Veröffentlicht am Mai 11, 2024

Das Paulinum ist weit mehr als ein Neubau; es ist eine bewusst inszenierte architektonische Debatte über Erinnerung und Verlust in Leipzig.

  • Die Gestaltung zwingt zur Auseinandersetzung, indem sie historische Zitate (Gotik) mit sichtbaren Brüchen (Asymmetrie) und moderner Materialität (Glas) konfrontiert.
  • Es ist weder eine reine Kopie der zerstörten Kirche noch ein neutraler Neubau, sondern ein „dritter Ort“, der den Schmerz des Verlustes sichtbar hält.

Empfehlung: Besuchen Sie das Gebäude nicht als Tourist, sondern als aktiver Leser. Suchen Sie gezielt nach den architektonischen Widersprüchen, um seine wahre Bedeutung zu entschlüsseln.

Wer heute vor dem Paulinum am Leipziger Augustusplatz steht, spürt eine eigentümliche Spannung. Die Silhouette zitiert eine gotische Kirche, doch die Fassade aus Glas und hellem Stein spricht eine unverkennbar moderne Sprache. Ist dies nun eine Kirche, eine Aula, ein Denkmal? Die Antwort ist komplizierter und weitaus faszinierender, als es auf den ersten Blick scheint. Seit seiner Eröffnung im Jahr 2017 ist das Gebäude ein Brennpunkt für Debatten, die tief in die deutsche Geschichte und das Selbstverständnis der Stadt Leipzig reichen.

Viele Besucher und selbst Einheimische begnügen sich mit oberflächlichen Labels: „die neue Universitätskirche“ oder „der moderne Uni-Bau“. Doch diese Kategorien greifen zu kurz. Sie übersehen, dass die wahre Genialität – und auch die Sprengkraft – des Entwurfs von Erick van Egeraat genau in dieser Unentschiedenheit liegt. Das Gebäude versucht nicht, die Wunde zu heilen, die 1968 durch die Sprengung der historischen Paulinerkirche auf Befehl der DDR-Führung gerissen wurde. Es legt sie vielmehr offen und macht sie zum permanenten Thema.

Dieser Artikel verfolgt daher einen anderen Ansatz. Wir betrachten das Paulinum nicht als fertiges Bauwerk, sondern als eine architektonische These, als einen gebauten Diskussionsbeitrag. Anstatt eine einfache Antwort zu geben, stellt das Gebäude Fragen: Wie gehen wir mit Verlust um? Was ist authentische Erinnerung? Kann Architektur einen ungelösten Konflikt manifestieren, anstatt ihn zu beschwichtigen? Die wahre Bedeutung des Paulinums liegt nicht im Konsens, den es schafft, sondern im Dialog, den es unaufhörlich provoziert.

Um diese vielschichtigen Botschaften zu entschlüsseln, werden wir die Gestaltungselemente des Baus wie einen Text lesen. Wir analysieren die zentralen Kontroversen, die es umgeben, und zeigen auf, wie jeder Besucher vom passiven Betrachter zum aktiven Interpreten werden kann. Denn das Paulinum ist kein stilles Denkmal, sondern ein aktiver Verhandlungsraum der Geschichte.

Warum polarisiert das Paulinum auch 15 Jahre nach Eröffnung noch immer die Gemüter?

Die Kontroverse um das Paulinum ist so tief in seiner DNA verankert wie der Beton in seinem Fundament. Sie speist sich aus drei wesentlichen Quellen: dem Geld, der Form und der Funktion. Zunächst waren da die Finanzen. Die finale Summe von fast 117 Millionen Euro Baukosten, eine Verdoppelung der ursprünglichen Planung, machte das Projekt zu einem der teuersten öffentlichen Bauten Sachsens und bot eine ständige Angriffsfläche für Kritiker.

Viel fundamentaler ist jedoch die formale Auseinandersetzung. Der damalige sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich brachte es bei der Eröffnung auf den Punkt, als er das Gebäude einen „absichtlichen Hybrid“ nannte. Genau hier liegt der Kern der Polarisierung: Für Traditionalisten, die sich eine originalgetreue Rekonstruktion der Paulinerkirche wünschten, ist es keine „echte“ Kirche. Für Verfechter einer radikalen Moderne ist es zu historisierend und damit keine kühne neue Form. Das Paulinum verweigert sich bewusst einer einfachen Zuordnung und besetzt einen Zwischenraum, der viele verunsichert.

Diese Unentschiedenheit manifestiert sich schließlich in seiner Funktion. Der jahrelange Streit um die Doppelnutzung als sakraler Raum und weltliche Universitätsaula mündete in einem Kompromiss, vermittelt durch die damalige Generalbundesanwältin Monika Harms. Das Ergebnis ist der offizielle Name: „Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli“. Dieser „Harms-Kompromiss“ ist symptomatisch für das gesamte Projekt: Er löst den Konflikt nicht, sondern schreibt ihn fest. Jede Seite – die Universität und die Kirche – bekam einen Teil, aber keine war vollständig zufrieden. Das Paulinum ist somit ein Monument des ungelösten Konflikts, ein permanenter Aushandlungsprozess, der die Gemüter erhitzt, weil er keine einfachen Antworten gibt.

Wie lesen Sie das Paulinum: Welche 5 Gestaltungselemente erzählen welche Geschichte?

Um das Paulinum zu verstehen, muss man lernen, seine Architektur zu „lesen“. Der Architekt Erick van Egeraat hat keinen neutralen Baukörper geschaffen, sondern ein Netz aus Zeichen und Symbolen, das aktiv mit der Geschichte kommuniziert. Fünf zentrale Gestaltungselemente dienen dabei als Schlüssel zur Entschlüsselung dieser komplexen Erzählung. Jedes Element ist eine eigene These über den Umgang mit Erinnerung und Verlust.

Die folgende Liste zeigt, wie die Architektur selbst zur Geschichtenerzählerin wird:

  • Die asymmetrische Giebelfassade: Auf den ersten Blick wirkt der Giebel wie eine Reminiszenz an die alte Kirche. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckt man eine feine, vertikale Linie, die die Symmetrie bricht. Diese Linie symbolisiert den Moment der Sprengung von 1968 – eine Narbe im Gesicht des Gebäudes, die den Akt der Zerstörung dauerhaft im Gedächtnis verankert. Es ist ein Symbol für den sichtbaren Verlust.
  • Die hängenden Glassäulen: Im Inneren scheinen massive Säulen die Decke zu tragen, doch sie bestehen aus transluzentem Glas und hängen von der Decke herab. Sie sind eine technische Meisterleistung und umfassen auch die mit 15,5 Metern Höhe größte transparente Schiebetür der Welt. Symbolisch verkehren sie die Logik von Tragen und Lasten und stehen für die Zerbrechlichkeit und Immaterialität von Erinnerung.
  • Das Sternrippengewölbe: Die Deckenkonstruktion nimmt die Form eines spätgotischen Gewölbes auf, ist aber in modernem, weißem Sichtbeton ausgeführt. Es ist ein Zitat, das seine Künstlichkeit offen zur Schau stellt. Es ahmt nicht nach, sondern verweist auf das Original und betont gleichzeitig die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
  • Die geretteten Epitaphien: Über 30 originale Grabdenkmäler und Kunstwerke aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, die in einer dramatischen Rettungsaktion nur sieben Tage vor der Sprengung geborgen wurden, sind in die Wände des Neubaus integriert. Sie sind die einzigen physisch authentischen Zeugen und treten in einen direkten Dialog mit der modernen Architektur, die sie umgibt.
  • Die neugotischen Fenster und die Rosette: Elemente wie das Maßwerk der Fenster oder die große Rosette sind klare Anleihen an die Gotik. Doch ihre Ausführung in hellem Kalkstein und ihre reduzierte Formensprache machen sie unmissverständlich zu modernen Interpretationen, nicht zu Kopien.

Diese Elemente schaffen einen Raum, der den Betrachter permanent zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Materialität und Immaterialität, zwischen Zitat und Original hin- und herpendeln lässt. Das Paulinum ist kein beruhigender, sondern ein fordernder Ort.

Innenansicht der schwebenden Glassäulen im Paulinum, die das Licht brechen.

Wie das Bild der Glassäulen zeigt, spielt die Architektur mit Wahrnehmung und Erwartung. Was massiv erscheint, ist durchsichtig und fragil. Diese bewussten Widersprüche sind keine Schwäche des Entwurfs, sondern seine eigentliche Stärke. Sie zwingen uns, unsere eigenen Vorstellungen von Geschichte und Gedenken zu hinterfragen.

Historische Kopie oder modernes Memorial: Was leistet Erinnerungsarbeit besser?

Die zentrale Frage, die das Paulinum aufwirft, ist die nach der richtigen Form der Erinnerung. Hätte man die Paulinerkirche originalgetreu wiederaufbauen sollen, wie es bei der Dresdner Frauenkirche geschah? Oder leistet eine moderne Interpretation, die den Bruch sichtbar macht, eine authentischere Erinnerungsarbeit? Der Architekt Erick van Egeraat positioniert sich hierzu klar. In seinen Augen war eine reine Rekonstruktion nie eine Option, da sie den Akt der Zerstörung und die DDR-Vergangenheit unsichtbar gemacht hätte.

Seine Haltung, die dem Gebäude zugrunde liegt, formuliert er selbst am prägnantesten. Wie er gegenüber dem Architekturportal e-architect erklärte, war sein Ziel ein Entwurf, der die Debatte nicht beendet, sondern ihr eine Form gibt:

Mit seinem Design fand Erick van Egeraat einen Konsens für jahrzehntelange Debatten über die Rekonstruktion. Er schuf kein Gebäude Stein für Stein neu, sondern ein neues Gebäude, das kraftvoll genug ist, Erinnerungen an das wiederzubeleben, was einmal war.

– Erick van Egeraat, Architekt des Paulinums via e-architect.com

Sein Ansatz schafft also keinen Ort der ungetrübten Nostalgie, sondern ein „modernes Memorial“, das eine aktive Auseinandersetzung erfordert. Es heilt die Wunde nicht durch Wiederherstellung, sondern hält die Erinnerung an den Schmerz wach. Die folgende Tabelle verdeutlicht die fundamentalen Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen der Erinnerungsarchitektur, wie sie eine Analyse der Universität Bonn herausarbeitet.

Vergleich: Rekonstruktion vs. Moderne Interpretation
Aspekt Historische Rekonstruktion (z.B. Frauenkirche Dresden) Moderne Interpretation (Paulinum Leipzig)
Ansatz Faktische Wiederherstellung des Originals Kritische Auseinandersetzung mit Geschichte
Erinnerungspolitik Heilung durch Wiederherstellung Sichtbarmachung des Verlusts
Architektonische Sprache Originalgetreue Kopie Hybride Form zwischen Alt und Neu
Nutzerreaktion Versöhnung mit Vergangenheit Aktive Auseinandersetzung erzwungen

Das Paulinum entscheidet sich also bewusst für den schwierigeren Weg. Anstatt eine vermeintlich heile Vergangenheit zu rekonstruieren, macht es den Verlust selbst zum zentralen Thema seiner Architektur. Es ist ein Monument, das nicht vergessen lässt, sondern zum Erinnern zwingt.

Warum verpassen Architektur-Touristen die eigentliche Bedeutungsebene des Paulinums?

Viele Besucher, insbesondere Architektur-Touristen, kommen mit einer klaren Erwartungshaltung zum Paulinum: Sie wollen ein ästhetisch ansprechendes, fotogenes Gebäude sehen. Sie bewundern die Höhe des Raumes, die Eleganz der Glas-Säulen und die Reminiszenz an die Gotik. Doch dabei bleiben sie oft an der Oberfläche und verpassen die eigentliche, tiefere Bedeutungsebene – die phänomenologische Erfahrung des Raumes. Das Paulinum ist kein Gebäude, das man nur anschaut; es ist ein Gebäude, das man erleben und spüren muss.

Die eigentliche Botschaft des Architekten erschließt sich nicht durch schnelles Fotografieren, sondern durch langsames, bewusstes Wahrnehmen. Es geht um die Akustik, die sich ändert, wenn man von der Aula in den Altarbereich tritt. Es geht um das Licht, das durch die Fenster fällt und im Tagesverlauf über die Oberflächen wandert. Es geht um das Gefühl der eigenen Körperlichkeit im Verhältnis zur monumentalen Skala der Architektur. Diese Erfahrung ist es, die den intellektuellen Diskurs über Erinnerung in ein spürbares Gefühl übersetzt. Man begreift den Konflikt zwischen sakral und profan nicht nur, man fühlt ihn.

Weitwinkelansicht des Paulinum-Innenraums aus der Perspektive eines sitzenden Besuchers, die die enorme Höhe und den Lichteinfall betont.

Wer das Paulinum wirklich verstehen will, muss also vom Touristen zum Forscher werden. Anstatt nur nach dem perfekten Foto zu suchen, sollte man sich Zeit nehmen und den Raum auf sich wirken lassen. Der folgende Leitfaden bietet eine praktische Anleitung für eine solche tiefere, phänomenologische Erkundung.

Ihr Aktionsplan zur Entschlüsselung des Paulinums

  1. Standpunkte wechseln: Setzen Sie sich bewusst für einige Minuten an verschiedene Stellen: einmal im belebten Aula-Teil, einmal im stilleren Altarbereich. Nehmen Sie die unterschiedliche Atmosphäre wahr.
  2. Akustik testen: Achten Sie auf die unterschiedliche Akustik in den durch die gläserne Trennwand separierten Bereichen. Wie verändert sich der Klang Ihrer Schritte oder leiser Geräusche?
  3. Lichtspiel beobachten: Besuchen Sie das Paulinum idealerweise an einem sonnigen Nachmittag und beobachten Sie, wie das Licht durch die Fenster und die Glassäulen wandert und geometrische Muster auf den Boden zeichnet.
  4. Dialog der Zeiten suchen: Suchen Sie die genaue Position der originalen Epitaphien. Betrachten Sie den Kontrast zwischen dem alten, verwitterten Stein und den glatten, modernen Wänden. Welchen Dialog führen sie?
  5. Blick nach oben richten: Betrachten Sie die Deckenkonstruktion genau. Wo trifft moderne Ingenieurskunst auf gotisch anmutende Formen? Versuchen Sie, die Struktur logisch zu erfassen und emotional zu spüren.

Durch diese bewusste Auseinandersetzung verwandelt sich der Besuch von einer passiven Besichtigung in eine aktive Entdeckungsreise. Erst dann offenbart das Paulinum seine wahre, vielschichtige Bedeutung.

Wann sollten Sie das Paulinum besuchen: Bei studentischen oder bei offiziellen Führungen?

Die Frage nach dem „richtigen“ Zeitpunkt für einen Besuch im Paulinum ist entscheidend, denn je nach Anlass offenbart das Gebäude völlig unterschiedliche Facetten seiner gespaltenen Identität. Die Reaktionen auf das Bauwerk sind extrem vielfältig und reichen von Bewunderung bis zu strikter Ablehnung, selbst unter Experten. Diese Zerrissenheit der Meinungen unterstreicht, dass es keine einzig richtige „Lesart“ des Gebäudes gibt.

Die stark polarisierenden Ansichten von Fachleuten, wie sie etwa im Leipziger Stadtmagazin Kreuzer dokumentiert wurden, zeigen dies eindrücklich. Während ein anerkannter Architekturkenner das Gebäude als „Katastrophe“ und „schlimmer als gedacht“ bezeichnete, empfand ein anderer es als „kitschig und ohne Eigenschaften“. Diese extremen Urteile verdeutlichen, wie sehr die Wahrnehmung von der eigenen Erwartungshaltung und dem Kontext des Besuchs abhängt.

Ein ausgewiesener Leipziger Architekturkenner urteilte beim ersten Betreten: ‚Eine Katastrophe. Das ist noch schlimmer als gedacht.‘ Ein anderer Bauexperte bezeichnete es als ‚kitschig und ohne Eigenschaften‘ – was zeigt, dass selbst Fachleute sehr unterschiedliche Lesarten des Gebäudes haben.

– Diverse Experten, dokumentiert im Kreuzer Leipzig

Um sich ein eigenes, differenziertes Bild zu machen, sollte man den Besuch strategisch planen. Es gibt im Wesentlichen drei Arten, das Paulinum zu erleben:

  • Die offizielle Führung: Die von der Kustodie der Universität angebotenen Führungen bieten einen faktenreichen, kunsthistorisch fundierten Überblick über die Architektur, die geretteten Kunstschätze und die Geschichte des Ortes. Dies ist die beste Option für einen ersten, strukturierten Zugang und um die architektonischen Details und Symbole kennenzulernen.
  • Die erlebte Funktion: Besuchen Sie einen Universitätsgottesdienst (sonntags um 11 Uhr) oder ein Orgelkonzert. Hier erleben Sie den Raum in seiner sakralen Funktion. Alternativ kann man eine öffentliche universitäre Veranstaltung in der Aula besuchen, um die weltliche Nutzung zu erfahren. Erst dieser Kontrast macht die Doppelfunktion wirklich spürbar.
  • Die persönliche Erkundung: Nutzen Sie die regulären Öffnungszeiten für eine individuelle Erkundung. Mit dem Wissen um die Symbolik (siehe H2 `52.2`) und dem Aktionsplan (siehe H2 `52.4`) können Sie sich frei im Raum bewegen und Ihre eigene, persönliche Beziehung zum Ort aufbauen, ohne die Deutungsvorgabe einer Führung.

Die ideale Herangehensweise ist eine Kombination: Beginnen Sie mit einer offiziellen Führung, um die Fakten zu lernen, und kehren Sie dann für eine Veranstaltung oder eine stille, persönliche Erkundung zurück, um den Raum emotional zu erfahren.

Warum ist die „anonyme Massenuni“ ein Mythos, der 60% der Kleinstadt-Abiturienten abschreckt?

Der Mythos der „anonymen Massenuniversität“ ist ein hartnäckiges Vorurteil, das viele Studieninteressierte, insbesondere aus ländlicheren Regionen, vor einem Studium in einer Großstadt wie Leipzig zurückschrecken lässt. Die Vorstellung, in der Masse unterzugehen, schreckt laut Schätzungen bis zu 60% der Abiturienten aus Kleinstädten ab. Doch gerade ein Projekt wie das Paulinum dient als kraftvoller Gegenbeweis und entlarvt diesen Mythos.

Eine Universität ist nicht anonym, wenn sie bereit ist, über ein Jahrzehnt lang einen schmerzhaften und öffentlichen Diskurs über ihre eigene Identität und Geschichte zu führen. Die Investition von über 100 Millionen Euro und unzähligen Stunden an Debatten in ein einziges Gebäude ist das exakte Gegenteil von Anonymität. Es ist ein Bekenntnis zu einem spezifischen Ort, einer spezifischen Geschichte und einer einzigartigen institutionellen Seele. Das Paulinum ist kein generischer Funktionsbau, den man an jeder beliebigen Universität errichten könnte; es ist untrennbar mit dem Trauma und der Wiedergeburt Leipzigs verbunden.

Für Studierende bedeutet dies, dass sie an eine Universität kommen, die sich ihrer Verantwortung für den öffentlichen und intellektuellen Diskurs bewusst ist. Anonymität entsteht dort, wo Institutionen gesichtslos werden. Die Universität Leipzig gibt sich mit dem Paulinum ein unverkennbares, wenn auch streitbares Gesicht. Es signalisiert, dass hier Auseinandersetzung und kritische Reflexion nicht nur geduldet, sondern architektonisch in das Zentrum des Campus eingeschrieben sind. Es ist ein Versprechen, dass Studierende hier nicht nur eine Nummer sind, sondern Teil einer lebendigen, sich ständig selbst hinterfragenden Gemeinschaft werden können.

Ost-Moderne oder Nachwendearchitektur: Was symbolisiert Leipzig authentischer?

Um die architektonische Bedeutung des Paulinums vollständig einzuordnen, muss man es im Kontext der Leipziger Baugeschichte seit 1945 betrachten. Steht es in der Tradition der DDR-Architektur, der sogenannten „Ost-Moderne“, oder repräsentiert es etwas gänzlich Neues? Die Antwort ist eindeutig und verortet das Gebäude als Schlüsselwerk der Nachwendearchitektur. Die lange Bauzeit ist hierfür ein erster, wichtiger Indikator.

Wie die Leipziger Zeitung dokumentiert, zog sich die Realisierung über 10 Jahre von 2007 bis 2017. Diese lange Periode des Planens, Streitens und Bauens fand vollständig im wiedervereinigten Deutschland statt. Doch entscheidender als die Bauzeit ist die inhaltliche Ausrichtung. Das Paulinum ist keine Fortsetzung der architektonischen Prinzipien der DDR, sondern eine direkte und kritische Reaktion darauf. Es ist eine Antwort auf den brachialen Akt der Sprengung von 1968, der selbst ein Symbol der sozialistischen Stadtplanung war.

Der Religionssoziologe Thomas Schmidt-Lux von der Universität Leipzig argumentiert, das Paulinum sei ein „Paradebeispiel für Nachwendearchitektur, die sich explizit mit dem Erbe der DDR auseinandersetzt.“ Es versucht nicht, die Vergangenheit zu ignorieren oder durch eine unhistorische Form zu ersetzen. Stattdessen thematisiert es den Verlust und die Leerstelle, die die DDR hinterlassen hat, und macht diese zum zentralen Entwurfsprinzip. Während die Ost-Moderne oft auf die Auslöschung bürgerlicher und sakraler Geschichte abzielte, um einer neuen Gesellschaftsordnung Platz zu machen, arbeitet die Nachwendearchitektur des Paulinums genau diese ausgelöschte Geschichte wieder auf – aber nicht, indem sie sie kopiert, sondern indem sie ihre Abwesenheit interpretiert.

Damit symbolisiert das Paulinum das Leipzig von heute vielleicht authentischer als jedes andere Gebäude: eine Stadt, die ihre tiefen historischen Wunden nicht versteckt, sondern sie als Teil ihrer komplexen Identität annimmt und zum Gegenstand einer andauernden, öffentlichen Debatte macht.

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Paulinum ist kein Gebäude, das gefallen will, sondern eine gestellte Frage in Stein und Glas über den Umgang mit historischem Verlust.
  • Seine „Lesbarkeit“ erfordert die Bereitschaft, Widersprüche zwischen Alt und Neu, Heilig und Profan, auszuhalten und als produktive Spannung zu begreifen.
  • Die wahre Funktion des Baus ist die aktive „Erinnerungsarbeit“; er ist ein Monument, das nicht vergessen lässt, sondern zum Erinnern zwingt.

Wie können Studieninteressierte und Nachwuchsforscher die akademischen Stärken der Universität Leipzig optimal für ihre Laufbahn einsetzen?

Für Studieninteressierte und junge Forschende ist die Wahl der richtigen Universität mehr als eine Frage des Studienfachs; es ist die Wahl eines intellektuellen Ökosystems. Das Paulinum ist in diesem Kontext weit mehr als nur ein repräsentatives Gebäude. Es ist ein physischer Beweis für die akademischen Stärken der Universität Leipzig, insbesondere in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Wer versteht, warum dieses Gebäude so ist, wie es ist, versteht auch, welche einzigartigen Chancen diese Universität bietet.

Die Stärke der Universität Leipzig liegt in ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit komplexen, auch schmerzhaften Themen. Das Paulinum ist das Manifest dieser Kultur. Es zeigt, dass die Universität ein Umfeld fördert, in dem Ambiguität nicht als Schwäche, sondern als produktiver Zustand verstanden wird. Für Forschende und Studierende bedeutet das konkret:

  • Interdisziplinarität als gelebte Praxis: Das Paulinum ist der Schnittpunkt von Theologie, Kunstgeschichte, Architektur, Soziologie und Politik. Es ist ein idealer Nährboden für alle, die über die Grenzen ihres eigenen Faches hinausdenken wollen.
  • Expertise in Transformationsforschung: Als Symbol der Nachwendezeit steht das Gebäude für die Kernkompetenz der Universität in der Erforschung gesellschaftlicher Umbrüche, sei es in Osteuropa, in der Globalisierungsdebatte oder in der Erinnerungskultur.
  • Eine Kultur der Debatte: Wer hier studiert oder forscht, wird Teil einer Gemeinschaft, die den Diskurs nicht scheut. Die Fähigkeit, widersprüchliche Positionen zu analysieren und eine eigene, fundierte Meinung zu entwickeln, wird hier nicht nur gelehrt, sondern täglich gelebt.

Anstatt die Universität also nur nach Rankings oder Modulführern auszuwählen, sollten angehende Akademiker die „kulturelle DNA“ der Institution betrachten. Die Auseinandersetzung mit dem Paulinum kann als eine Art Eignungstest dienen: Wer von der Komplexität und den Widersprüchen dieses Gebäudes fasziniert ist, wird wahrscheinlich auch das intellektuelle Klima der Universität Leipzig als bereichernd empfinden. Es geht darum, die symbolische Architektur als Wegweiser zu den akademischen Stärken zu nutzen.

Um das Potenzial voll auszuschöpfen, ist es entscheidend, die Verbindung zwischen der symbolischen Architektur und den akademischen Profilen zu erkennen.

Nutzen Sie dieses Verständnis der Leipziger Identität, um Ihre eigene akademische Nische zu finden, Ihre Forschungsthemen zu schärfen und sich bewusst in einem Umfeld zu positionieren, das kritische Tiefe mehr schätzt als oberflächlichen Konsens.

Häufige Fragen zum Besuch des Paulinums

Wann finden die kostenlosen öffentlichen Führungen statt?

Kostenlose öffentliche Führungen durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kustodie finden jeden Freitag um 14:00 Uhr statt. Sie bieten einen fundierten Einblick in die Geschichte, Architektur und die ausgestellten Kunstwerke.

Welche besonderen Veranstaltungen eignen sich für einen Besuch?

Um die besondere Doppelfunktion des Raumes zu erleben, eignen sich die Universitätsgottesdienste, die jeden Sonntag um 11 Uhr stattfinden, oder die regelmäßig veranstalteten Orgelkonzerte. Sie lassen den Besucher die sakrale Atmosphäre und die Akustik des Raumes erfahren.

Wann ist der Altarbereich für Besichtigungen geöffnet?

Der Altarbereich ist für individuelle Besichtigungen von Dienstag bis Samstag, jeweils von 10:30 bis 14:30 Uhr, geöffnet. An sächsischen Feiertagen bleibt dieser Bereich in der Regel geschlossen.

Geschrieben von Thomas Fischer, Thomas Fischer ist Diplom-Architekt und Stadtplaner mit über 15 Jahren Erfahrung in nachhaltiger Stadtentwicklung und denkmalgerechter Sanierung. Als Projektleiter in einem renommierten Leipziger Architekturbüro verantwortet er die Umnutzung historischer Industriebauten und die Gestaltung klimaneutraler Quartiere.